Eröffnungsvortrag zur Tagung

Michaela Huber

Trauma, Dissoziation und Psychiatrie

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Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
im Namen der Deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation DGTD heiße ich Sie als 1. Vorsitzende herzlich willkommen in Bielefeld. Es ist uns eine besondere Freude, diese Tagung gemeinsam mit der Klinik für Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin und der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Ev. Krankenhauses Bielefeld durchzuführen. An dieser Stelle schon einmal tausend Dank an die beiden Kliniken für ihre freundliche personelle und organisatorische Unterstützung dieser Tagung.

Bevor ich Ihnen das Programm noch etwas näher erläutern und die ersten Beiträge ankündigen möchte, lassen Sie mich noch zwei Kolleginnen besonders hervorheben, die dafür Sorge getragen haben, dass die Tagung überhaupt stattfinden und dass Sie hier so sorgfältig wie nur irgend möglich als TeilnehmerInnen begleitet werden: Das ist einmal Sabine Schröder, die mit ihrem Kommunikationsbüro, mit ihren Ideen, ihrer Übersicht, ihrer Stress-Resistenz und ihrem enormen Organisationstalent jede unserer Tagungen in der letzten Zeit in Vorbereitung und Ausführung begleitet und die mit Gold nicht aufzuwiegen ist… Und das ist zum zweiten Ute Bluhm-Dietsche, die Stellvertretende Vorsitzende der DGTD, die nimmermüd versucht hat, so viel Unterstützung vor Ort wie nur möglich für und zu organisieren, und mit der ich auch im kleinen Programm-Komitee sehr erfolgreich zusammengearbeitet habe… Ohne zahlreiche weitere HelferInnen, darunter auch die anderen Vorstandsmitglieder der DGTD sowie alle guten Geister, die uns heute und morgen durch die Tagung leiten und begleiten, ist eine solche Tagung nicht durchzuführen. Und schließlich bedanke ich mich sehr herzlich bei unseren ReferentInnen und Workshop-LeiterInnen, die wenig bis gar nichts an finanziellem Entgelt dafür erhalten leider – wir sind ja ein feiner, aber auch ein kleiner Verein und stecken alle Gelder, die wir hier einnehmen, ausschließlich in die Organisation der nächsten Tagungen –, und die trotzdem gekommen sind, weil sie das Thema und den Austausch mit den KollegInnen wichtig finden. In die Vorbereitung ihrer Vorträge und Workshops haben die KollegInnen viel Arbeit und Herzblut investiert, und an dieser Stelle bereits von uns aus dafür ein ganz herzliches Dankeschön.

Nun zum Inhaltlichen eine kleine Einführung:
Die Geschichte der deutschen Psychiatrie ist voller radikaler Brüche; unsere drei ersten Referenten dieses Morgens, Prof. von Cranach, Prof. Driessen und Frau Dr. Kirsch werden darüber einiges zu erzählen haben, im Anschluss wollen wir das Thema ausgiebig in einem Podiumsgespräch mit Ihnen allen hier gemeinsam diskutieren. Lassen Sie mich nur einige einleitende Worte dazu sagen:

Die DGTD, also die Deutsche Gesellschaft für Trauma und Dissoziation, ist die Nachfolgerin der deutschen Sektion der internationalen Fachgesellschaft für dissoziative Störungen ISSTD. Wir führen seit 13 Jahren für alle Berufsgruppen, die mit komplex traumatisierten und komplex dissoziativen Menschen arbeiten, jährlich mindestens einmal eine Fachveranstaltung durch. Dass wir uns in diesem Jahr das Thema Psychiatrie in den Mittelpunkt gestellt haben, hat damit zu tun, dass in unserer Klientel sehr viele Menschen sind, die ausgiebige Psychiatrieerfahrungen haben – und nicht immer die besten. Als ambulant arbeitende Psychotherapeutin habe ich ebenso wie in meinen anderen Aufgaben als Supervisorin, Ausbilderin und Sprecherin dieser Fachgesellschaft häufig Beschwerden gehört, war oft in psychiatrischen Kliniken zu Vorträgen und Gesprächen sowie zu Fortbildungen. Mein Eindruck ist, dass sich sehr viele KollegInnen in psychiatrischen Kliniken eine enorme Mühe geben, den Menschen gerecht zu werden, die – sehr oft in akuten, für sie oder andere lebensbedrohlichen Krisen – zu ihnen kommen in großer Not. Mir liegt am Herzen, zuallererst diesen KollegInnen zu sagen: Sie machen eine so enorm wichtige und oft so anstrengende Arbeit, dass wir Sie auch von unserer Seite her sehr gern noch besser unterstützen möchten. Heute und morgen werden wir hoffentlich von vielen von Ihnen hören, wie es Ihnen geht, und was Sie sich auch von uns erhoffen, was aber möglicherweise auch strukturell un fachpolitisch an Problemen angegangen werden muss.

Dass diese Tagung nicht, wie so oft bei uns, mehr als doppelt bis dreifach so viele BesucherInnen hat, liegt vielleicht auch genau an diesem Thema. Nicht dass es ein unwichtiges wäre. Sondern genau umgekehrt: Es ist für viele KollegInnen ein so brisantes Thema, dass viele den Kurzurlaub vorziehen oder abgewunken haben, manche, wie der Verein Vielfalt e.V., regelrecht regnativ: Man erhoffe sich keine Verbesserung, die Situation sei so schwierig wie eh und je und keine Besserung in Sicht, im Gegenteil.

Ein Blick auf die Statistik scheint die Sorge zu bestätigen: Die Zahl psychischer Erkrankungen ist laut Gesundheitsbericht der Techniker Krankenkasse im Juni 2012 in den letzten fünf Jahren um 60 Prozent, seit 1994 um 120 Prozent gestiegen; darunter sind vermehrt Menschen, die noch mitten im Erwerbsleben standen, als sie zusammenbrachen. Nur zehn Prozent der psychisch kranken Menschen in Deutschland erhalten eine angemessene Behandlung. "Der Gesetzgeber sollte dringend mehr Therapieplätze für psychisch kranke Menschen schaffen", fordert Prof. Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer – und das sicher zurecht, denn wir erleben täglich, dass eine Chronifizierung der seelischen Probleme – wie in der von uns vertretenen Klientel üblich – dazu führt, dass mehr Therapiestunden gebraucht werden, die aber nicht bewilligt werden, und dadurch der Druck auf Tageskliniken und andere, stationäre, Angebote steigt. In psychotherapeutischen und psychiatrischen Kliniken erleben wir jedoch durch die Privatisierung – schließlich wollen private Financiers und Aktiengesellschaften Rendite sehen - einen neuen, alten Trend: Weg von psychotherapeutischen Angeboten, hin zur erneuten Medikalisierung und Verwahrung der PatientInnen. Das alles gab es schon einmal, und manche Ältere von uns fühlen sich bereits bedrohlich an die Zeiten vor der Psychiatrie-Enquete der 70er Jahre zurückversetzt.

Menschen mit frühen Bindungstraumatisierungen und dissoziativen Störungen brauchen vor allem eines: Ein sicheres Bindungsangebot, dabei liegt die Betonung auf Sicher ebenso wie auf Bindungsangebot. Sicherheit können psychiatrische Kliniken auf ihren geschlossenen Stationen bieten, und was ist mit der verlässlichen Beziehung, die notwendig ist für die Stabilisierung der PatientInnen? Wird sie zunehmend durch Morgenrunden, Visiten, Skills-Trainings und Medikamente ersetzt, so ist das sicher alles wichtig, insgesamt aber ein schlechter Ersatz für Bezugspflege und therapeutische Einzelgespräche.

Mehr noch: Vieles, was wir längst überholt glaubten, gibt es immer noch: Entwertungen, Folter-ähnliche Zwangsmaßnahmen, beschämendes Vorgeführtwerden etc. Menschen mit schweren dissoziativen Störungen werden häufig fehldiagnostiziert, als schizophren, bipolar etc. Oder sie werden überwiegend mit einem ihrer Probleme gesehen und behandelt, ohne dass das Ensemble der in verschiedenen Persönlichkeitsanteilen sehr unterschiedlichen Probleme gesehen wird. So landen viele als Suchtkranke, Depressive, Angstgestörte, Essgestörte etc. auf rein Symptom-orientierten Stationen und werden dort, nicht selten übermedikalisiert, häufig als Drehtür-PatientInnen immer wieder aufgenommen oder als Drop-Outs, also sozusagen als hoffnungslose Fälle, wieder entlassen. Dissoziative Amnesien, etwa für selbstverletzendes Verhalten, werden nicht selten als bewusstes Irreführen fehlinterpretiert; Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung bekommen zu hören: "Multiple Persönlichkeit, das gibt es nicht, jedenfalls nicht hier bei uns." In letzter Zeit wird wieder mal vom "False Memory Syndrom" gesprochen, das es – übrigens im Gegensatz zur dissoziativen Identitätsstörung – in keinem diagnostischen Handbuch gibt, das sich aber dann anzubieten scheint, wenn man einer PatientIn ihre berichteten Gewalterfahrungen einfach nicht glauben möchte.
PatientInnen mit dissoziativen Krampfanfällen bekommen entweder mit, dass sie behandelt werden, als ob sie sich nur anstellen würden, oder man behandelt sie auf die Krampfanfälle, ohne zu bedenken, dass die Medikamente, die man ihnen gegen ihre psychischen Probleme gibt, als Nebenwirkung solche Krampfanfälle auslösen können – setzen die PatientInnen dann die Medikamente ab, hören die Krampfanfälle auf. Ähnliches gilt für andere der schweren Nebenwirkungen der so starken psychisch wirksamen Medikamente, die insbesondere komplex traumatisierte PsychiatriepatientInnen nicht selten in Massen unterschiedlichster Art verschrieben bekommen.

Ich könnte natürlich noch etliche weitere Beispiele anführen, aber ich glaube, Sie alle wissen, was gemeint ist: Eine individuelle Zuwendung, ein offenes Ohr, ein respektvolles Verstehenwollen ist mehr Medikament für viele PatientInnen als jede Chemie. Und genau dieses, das "Medikament Beziehung", wird vielen Not- und Hilfesuchenden Menschen nur unzureichend gewährt, von weiterer kompetenter psychotherapeutischer Hilfe in Sachen dissoziative Störungen ganz zu schweigen.

Nicht schweigen wollen wir hier: Wir möchten mit Ihnen anschauen, durch welche Höhen und Tiefen die deutsche Psychiatrie gegangen ist, wo sie heute steht, worum sich die KollegInnen bemühen, wenn sie ihren PatientInnen gerecht werden wollen. Es wird sicher manchmal heiß diskutiert werden, daher bitte ich hier um eines vor allem: Um Fairness. Diejenigen, die hier sind, wollen etwas für unsere PatientInnen erreichen, davon gehe ich aus. Sie wollen die Situation verstehen, um sie verbessern zu können. Lassen Sie uns also gemeinsam nachdenken darüber, was notwenig ist, um die Not der Menschen zu wenden, die sich bereits als Kinder unter den Grausamkeiten, denen sie erlitten haben, unter den Verlusten an Bindung, Beziehung, Trost und Zuwendung aufgespalten haben in viele Zustände und Anteile. Wir hier sind eine Lobby für diese Menschen, wir sind hier, um zu verstehen, wie wir sie weiter und besser unterstützen können. In diesem Sinne wünsche ich uns allen die Fähigkeit zu sorgfältigem Zuhören, respektvollem Diskurs, mutigen Forderungen und zu Ansätzen von kreativen Lösungen in einem schwierigen Berufsfeld und in Zeiten, in denen die Not eher zu- als abzunehmen scheint. Lassen Sie uns wahrnehmen, welchen Weg viele KollegInnen in der deutschen Psychiatrie gegangen sind und weiter versuchen, um ihnen bei ihrer schwierigen Arbeit Unterstützung zu geben. Und lassen Sie uns Dialoge mit PsychiaterInnen führen, die bereit sind, die Bedürfnisse unserer KlientInnen wahrzunehmen und ihnen gerecht zu werden.

Wir werden an jedem Tag drei KollegInnen in Kurzvorträgen hören, die sich sehr geschichtsbewusst zeigen werden. Alle sind oder waren in verantwortlichen Positionen tätig und wissen um die Schwierigkeiten, große Kliniken in eine moderne Zeit zu führen. Sie alle werden jeweils halbstündige Impulsreferate halten. Nach den Vorträgen werden wir eine Podiumsdiskussion zu allen drei Referaten durchführen – um die wichtigsten Punkte noch einmal im Dialog zu vertiefen und dabei auch Ihre Fragen und Kommentare zu hören und mit einzubeziehen. Nach der Mittagspause werden wir dann jeweils in die Workshops gehen und die dortigen Themen diskutieren. Am Ende der zweitägigen Veranstaltung werden wir beim Abschluss-Kaffee ein erstes Fazit der Tagung ziehen.

Ich freue mich mit Ihnen auf eine lebendige und diskussionsfreudige Tagung!

Michaela Huber

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